Tag 6: Thame Monastery

Donnerstag, 1. Mai 2025

Der Blick aus dem Fenster offenbarte an diesem Morgen eine Welt in gedämpften Grautönen; dichter Nebel hing schwer über den Hängen, und der Blick nach innen, in das eigene Befinden, zeigte, dass die Höhe langsam, doch unaufhaltsam, ihre unsichtbaren Finger nach uns ausstreckte und in Körper und Geist ihre nachwirkende Schwere legte. Und doch, so gebot es die Vernunft des Reisenden, musste das Frühstück, wie unwillig es auch aufgenommen werden mochte, in den Leib, auf dass der Tag mit Kraft begonnen werde.

Während wir auf eine Gunst des Wetters harrten, überbrückten wir die stillen Stunden mit dem Würfelspiel „Dreißig“, dessen monotones Klackern und das gemurmelte Zählen der Augen eine träge Vertrautheit in die Kühle des Morgens brachten. Gegen die elfte Stunde endlich der Entschluss zum Aufbruch – obwohl die Sonne es nicht vermocht hatte, die wabernden Schwaden zu vertreiben.

Beim Aufstieg dann der Blick zurück auf Thame, und erst aus dieser Höhe offenbarte sich das grausame Werk der Natur: jene erdrutschartigen Fluten, die, wie von einer Laune der Götter gelenkt, mitten durch das Dorf gefegt waren.

Ein kurzer Anstieg, kaum zwanzig Minuten, und wir standen vor dem Kloster – still und ehrwürdig, die Mauern rau vom Wind der Jahrhunderte gegerbt.

Auf dem Weg dorthin eine Andachtsstelle, die uns die Bedeutung des „Om Mani Padme Hung“-Mantras erschloss, jenes ewigen Murmelns, das hier in Stein und Gebetsmühle wohnt. Om Mani Padme Hung ist das sechssilbige Mantra von Chenrezig, auch bekannt als das Mani. Es verkörpert die mitfühlende Weisheit aller Buddhas und manifestiert sich als der Klang der vielen Mantras, der Vidyamantras, Dharanis und geheimen Mantras. Keines sei diesem sechssilbigen Mantra überlegen. Es heißt, das bloße Rezitieren des Mani, selbst nur ein einziges Mal, komme dem Rezitieren aller Lehren des Buddha gleich.

Wir erwarben die Eintrittskarten, traten ein und begannen die Besichtigung, bei der das Fotografieren untersagt war.

Ein sechzehnjähriger Mönchsschüler, schmächtig und hellen Auges, führte uns durch die alten Hallen; seit zwei Jahren lebte er dort, unter etwa dreißig Mönchen, deren Kloster mit seinen fünfhundert Jahren zu den ehrwürdigsten des Landes zählt. Ihr Ziel, so erklärte er mit einer Ernsthaftigkeit, die weit älter wirkte als sein junges Gesicht, sei das Erklimmen der dreizehn Stufen, welche zur vollen Erleuchtung führten – eine symbolische Reise, die sich auch in jeder Stupa wiederfand, deren Aufbau eben jene dreizehn Stufen zählte.

Er nannte uns die Namen dieser Stufen: Pramuditā – die Freudvolle, Vimalā – die Reine, Prabhākarī – die Lichtstrahlende, Arciṣmatī – die Glänzende, Sudurjayā – die Schwer zu Überwindende, Abhimukhī – die zur Wahrheit Gekehrte, Dūraṅgamā – die Weit Gehende, Acalā – die Unerschütterliche, Sādhumatī – die Gute Einsicht, und Dharmameghā – die Dharma-Wolke, aus der alle Wesen genährt werden.

Wie merkwürdig, dachten wir, dass die Zahl dreizehn, die hier so heilig und erhebend gilt, in unserer eigenen Kultur als Unglückszahl verschrien ist. Und ebenso wunderlich erschien uns die Zeit selbst: Während wir im Jahre 2025 schreiben, zählt man hier bereits das Jahr 2082 – ein Sprung nicht der Raumfahrt, sondern der Kalenderrechnung, genannt Vikram Sambat, eingeführt im Jahre 1903, ein Luni-Solar-Kalender, der sich um etwa siebenundfünfzig Jahre von unserem unterscheidet. So wird am vierzehnten April 2025 das neue Jahr 2082 beginnen, mit dem Monat Baisakh.

Eine weitere Zahl sollte an diesem Tage Gewicht haben: 3.992 Meter maß der Ort unseres Rastens – und damit waren wir nur wenige Schritte, wenige Atemzüge, von der magischen Viertausendergrenze entfernt, hinter der der eigentliche Gipfelweg erst beginnt.

 

Doch während wir dies dachten, war aus dem morgendlichen Nebel stiller Schneefall geworden, ein leises Rieseln, das die Stille noch dichter machte und uns mit jener bangen Frage zurückließ: Wie wird der morgige Tag sein?

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