Tag 10: Gokyo Walk
Montag, 5. Mai 2025Die Nacht nach jenem großen Tag, an dem wir den Pass bezwangen, hätte der Ruhe gehören sollen. Und doch – sie wich mir aus, entglitt, als sei auch der Schlaf ein dünner, unsicherer Hauch in dieser Höhe. Es war eine seltsame Unrast, die mich begleitete, ein Flirren in den Gedanken, wie das Wispern der Gletscher, die draußen im Dunkel ruhten.

Der Morgen versprach Leichtigkeit: nur ein kurzer Gang zum fünften See, ein Spaziergang, wie man ihn so nennt – als sei er eine Geste der Erholung. Doch schon beim Frühstück spürte ich die eigentümliche Revolte des Körpers. Der Magen verweigerte die Gefolgschaft; jeder Bissen, der die Kehle hinabglitt, schien eine zaghafte Hoffnung, die im nächsten Augenblick wieder zurückwollte.

Und dennoch, wir brachen auf, in die sonnenhelle Stille des Vormittags. Der Weg, einfach, unspektakulär, wurde mir zu einer kleinen Prüfung. Ich kam nur langsam voran, keuchend, wie jene alte Lokomotive aus den Kindergeschichten – mühsam, aber unbeirrbar.

Der See, den wir suchten, lag nach kaum einer Stunde vor uns, flach, nicht einmal stark gefüllt, als hätte er die Gnade der Fülle längst verloren.

Wie an jedem Tag zogen bald Wolken herauf, grau und geduldig, und wir beschlossen, den Aussichtspunkt nicht zu erklimmen. Denn was hätten wir gesehen außer Nebel? Und dennoch war es, als hätte ich in diesen grauen Schleiern etwas gespürt – eine Ahnung von der Vergänglichkeit der Bilder, die man so gern festhalten will.

Auf dem Rückweg öffnete sich der Blick für einen Augenblick auf die Gletscherwelt, die uns morgen erwarten sollte: zerborstene Flächen, Eisschollen von erhabener Kälte, ein Reich, das wie ein anderes Zeitalter wirkte. Doch für heute galt das Wort „Regeneration“. Der Körper, so sehr er gestern über die Schwelle getragen worden war, forderte nun seinen Tribut.

Es waren nicht einmal fünf Kilometer, nicht einmal hundertvierzig Höhenmeter – ein Nichts gemessen an den gestrigen Mühen. Und doch war es genug, um das Bewusstsein für die Grenze zu schärfen.

Am Nachmittag gönnte ich mir Ruhe, half der Erholung mit einem Mars-Riegel nach, dessen Ablaufdatum seltsam mit meinem Geburtstag zusammenfiel – ein Zeichen, für was auch immer. Ich habe es bis heute nicht entschlüsselt.

Hier in Gokyo, in dieser kargen Höhe um die 4.800 m, begegnen sich die Zeiten wie zwei Wanderer auf einem schmalen Pfad.
Die Vergangenheit, herb und rauchig, steigt auf aus den getrockneten Fladen der Yak-Dung, die seit Jahrhunderten den Ofen speisen und das Leben wärmen. Daneben, kaum ein paar Schritte entfernt, stehen die Photovoltaik-Anlagen, still glänzend im Hochgebirgslicht – Boten einer Zukunft, die ihre Strahlen schon in die raue Gegenwart legt.
Es ist, als atme dieser Ort in zwei Richtungen zugleich: nach hinten, in die uralten Rhythmen der Notwendigkeit, und nach vorn, in die Verheißung einer neuen Ordnung. Zwischen ihnen steht der Mensch, frierend, staunend, und weiß nicht, welchem Feuer er seine Hände zuerst entgegenstrecken soll.

Auf dem Streifzug durch Gokyo, ließ ich den Blick über den See wandern, als würde das Wasser eine Antwort bereithalten, und setzte mich schließlich in jenes Café, das Frank und Mellie mir empfohlen hatten.

Dort, am Ufer, warteten die größten Zimtschnecken, die mir je begegnet sind – grotesk in ihrer Üppigkeit, ein stiller Hohn auf die Kargheit dieser Welt.
Am Abend schließlich, als das Licht sank und die Berge in ihre grauen Schatten zurückkehrten, setzten wir unser Würfelspiel fort – diesmal nicht allein. Ein 85-jähriger Australier trat hinzu, ein Mann mit dem Blick jener, die mehr gesehen haben, als Worte fassen. Er erzählte von einem Fußballverein, den er in Australien gegründet hatte, und versprach, das Spiel, das uns hier verband, nun auf einen neuen Kontinent zu tragen. Und für einen Augenblick schien es, als sei dies der eigentliche Sinn aller Wege: dass sie sich kreuzen.